Bild eines Tanzpaares im Sonnenuntergang

Anti-sexistisch tanzen?

Philipp Eigner
11 min readOct 7, 2020

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Gibt es so etwas wie feministisches Salsa-, Bachata- und Kizomba-Tanzen?

Kontakt, Nähe, Spannung und Fluss, Dynamik, Harmonie, Rhythmus und Ästhetik. Tanzen ist eine unglaublich erfüllende Beschäftigung. Für mich die erste Beschäftigung, die mich wirklich gefesselt hat und mich nach immer mehr greifen lässt. Mehr Wissen, mehr Leichtigkeit, präzisere Bewegungen und klarere Interaktion. Ich sehne mich, freue mich, bin euphorisiert. Vorher, währenddessen, nachher. Wir müssen nicht weit wegfahren, um zu tanzen. Wir brauchen kaum spezielle Ausrüstung, wenn wir uns spontan zum Tanzen treffen. Nicht einmal bestimmtes Wetter brauchen wir. Tanzen funktioniert immer. All diese Puzzleteile machen Social-Dancing für mich zu einer fesselnden Beschäftigung für jeden Tag der Woche. Ich habe mich niemals erfüllter gefühlt als beim Tanzen.

So empfinde ich dabei.

Tanz lässt sich aber auch anders interpretieren. Persönlichen Einblick habe ich in die Tänze Salsa, Bachata und Kizomba. Tanz kann zugleich ein Sammelbecken für Macho-Phantasien sein, sexuelle Übergriffe darstellen und Rollenerwartungen befriedigen. Als Mann, der nach und nach feministisch denken lernt, stelle ich mir oft die Frage, ob ich als Teil der Tanzszene gegen meine feministischen Überzeugungen handele. Ob ich Sexismus in die Zukunft fortschreibe. Ob ich Stereotype und Ungleichbehandlung verfestige.

Bild eines Tanzpaares im Sonnenuntergang

Können wir feministisch Salsa, Bachata und Kizomba tanzen, oder ist Sexismus ein wesentlicher Grundpfeiler dieser Tänze? Sexismus verstehe ich hier als Ungleichbehandlung und -bewertung aufgrund unterstellter Geschlechtsunterschiede.

Was ist das Problem?

Kann etwas, das so viele positive Gefühle auslöst wie Social-Dancing überhaupt problematisch sein? Ich glaube JA. Sicher ist es einerseits möglich, dass beide Tanzpartner*innen den Moment des Tanzes uneingeschränkt genießen. Andererseits findet dieser Genuss im Kleinen in einem stark vorbelasteten Großen und Ganzen statt. In einem Denksystem, das unstrittig von festgelegten Rollenbildern und Zuschreibungen zehrt.

Grundprinzip von Tänzen wie Salsa ist die Rollenverteilung nach Leader (Führende*r) und Follower (Folgende*r). Die Verteilung ist dort zwingend nötig. Das System dieser Tänze würde andernfalls nicht funktionieren. Die Art und Weise wie Figuren durch Aktion und Reaktion entstehen baut auf diese Verteilung. Ebenso Statik und Dynamik, die physikalisch wirken müssen, um die charakteristischen Bewegungen zu ermöglichen. Spinning, also schnelle Drehungen des Followers im Rhythmus der Musik, ist ohne klare Führung nicht denkbar. Genauso wenig Hebefiguren, die ein stabiles Fundament benötigen, um nicht unkontrolliert zu wirken. Ohne die Leader-Follower-Beziehung würde ein chaotisches Zusammenspiel entstehen, das sich für die Tanzenden nach Missverständnis anfühlt und nach außen hin auch so aussieht.

Es gibt Tänze, die nicht auf die Aufteilung in Rollen angewiesen sind oder allein getanzt werden. Diese werden den Tanzenden aber niemals das Salsa-/Bachata-/Kizomba-Gefühl vermitteln. Dieses für jeden dieser Tänze eigene Gefühl von Energie und Interaktion. Um dieses Gefühl zu erleben, ist die Existenz der Leader- und Follower-Rolle unbedingt nötig.

Nun ist noch nichts darüber gesagt, ob die Rolle Leader zwingend männlich und die Rolle Follower zwingend weiblich besetzt werden muss. Die Antwort ist ein klares NEIN! Muss sie nicht. Damit die Tänze funktionieren, reicht es aus, dass die Rollen überhaupt existieren. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass die Rollen in der überwältigenden Mehrzahl den gängigen Stereotypen folgend von Männern und Frauen ausgefüllt werden. Die Funktionen, die beim Tanz von Leader und Follower auszufüllen sind, werden von Frauen und Männern häufig in der Zuordnung übernommen, wie sie der traditionellen gesellschaftlichen Erzählung der “natürlichen” Eigenschaften von Mann und Frau entspricht. Was heißt das konkret?

Die notwendigen Funktionen des Leaders bei Salsa, Bachata und Kizomba, unabhängig davon wer die Rolle übernimmt, sind die folgenden: Er*Sie ist der agierende, initiative Part. Ist Ideengeber*in. Gestaltet die Grundstruktur. Definiert was getanzt wird. Gibt den Rahmen vor. Bildet das Wurzelwerk des Paares.

Das deckt sich mit vielen Klischees, die im gesellschaftlichen Mainstream auf Männer projiziert werden: Der Mann agiert und definiert. Der Mann ist Subjekt. Der Mann ist stark und grob.

Die Funktionen des Followers sind hingegen diese: Er*Sie ist der reagierende, abwartende Part. Kann entscheiden wie der vorgegebene Rahmen ausgestaltet wird. Bildet den Blickfang. Präsentiert sich und wird präsentiert. Er*Sie steht für die Blüten des Paares.

Das wiederum fällt zusammen mit Klischees, die in der Regel auf Frauen projiziert werden: Die Frau reagiert. Die Frau ist Objekt. Die Frau ist schön und präsentabel.

Somit ist offensichtlich, dass in den hier behandelten Tänzen ein sexistisches Rollenverständnis dargestellt und bestätigt wird. Das ist meines Erachtens kein Zufall. Ich bin überzeugt, dass eine sexistische Grundidee von Anfang an bei der Entstehung dieser Tänze in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mitgedacht wurde, wenn nicht sogar wesentlich war. Anders kann ich mir nicht erklären, wie bestimmte verführerische Gesten und die Überbetonung von Brust und Hintern in die Ästhetik der verschiedenen Tänze gelangt sind. Auffällig ist, wer wen verführt, wer wessen Zierde darstellt. Ausdrücklicher Sexismus war in den damaligen Gesellschaften akzeptierter als heute. Aber auch heute noch sind die Erzählungen von Chef und Sekretärin, von Rockstar und Groupie, von Fußballer und Fußballerfrau präsent in den Köpfen der Menschen. Die grundsätzlichen Ausdrucksformen von Salsa, Bachata und Kizomba reihen sich in dieses hierarchische Verständnis ein.

Vielen von uns bereitet das ein mulmiges Gefühl. Die gesellschaftlichen Diskurse, die im Jahre 2020 geführt werden, wirken in jeden Bereich unseres Alltags nach. Alte Selbstverständlichkeiten stellen wir in allen Bereichen infrage. So auch im Tanz.

Was können wir tun, um das Schöne unserer Tänze weiterzuentwickeln und gleichzeitig den sexistischen Ballast über Bord zu werfen?

Da in den nächsten Zeilen oft die Rede davon sein wird, möchte ich noch einmal den Unterschied zwischen sexuell und sexistisch herauszuarbeiten.

Sexuell ist, was im weitesten Sinne seine Energie aus zwischenmenschlicher Anziehungskraft und Fortpflanzungstrieb bezieht. Ich schließe hier etwas vereinfachend Liebe und Verliebtheit mit ein. Der Sexualtrieb ist im Menschen genauso grundlegend verankert, wie das Bedürfnis zu essen oder zu schlafen. Zwar ist er durch Kultur überlagert, aber immer noch präsent. Er drückt sich noch heute beispielsweise in der anziehenden oder abstoßenden Wirkung von Körpergeruch, im Schönheitsempfinden und in der Bereitschaft zu Nähe aus. Das Wirken dieser Energien zu beobachten, bereitet mir Freude und ich kann daran nichts Verwerfliches finden.

Sexistisch hingegen ist es, Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen aufgrund angenommener Geschlechtsunterschiede zu beschränken, vermeintlich geschlechtsspezifische Ausdrucksformen von den Tänzer*innen zu erwarten, aber auch diese Ausdrucksformen mit sexueller Verfügbarkeit gleichzusetzen. Sexistisch ist es weiterhin, schon bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse auf der Tanzfläche fortzuführen und den Tanz als Vorwand für sexuelle Belästigung zu nutzen.

Folglich ist sexuell ein neutraler Begriff, sexistisch hingegen eine Beschreibung für im Kontext der Diskurse des 21. Jahrhunderts geächtetes Verhalten.

Social-Dancing könnte meiner Meinung nach auf diesen drei Stufen weniger sexistisch gemacht werden: Grundsätzliche Übereinkunft, Einfache Verhaltensänderungen und Rollenverständnis.

Grundsätzliche Übereinkunft

Zunächst glaube ich, dass grundsätzliche Übereinkunft bestehen sollte, das Tanzen sportlich zu betrachten. Als eine Form der gesellschaftlichen Interaktion, die Menschen unabhängig ihrer Positionierung ein gutes Gefühl gibt. Tanz soll einen Raum schaffen für Wertschätzung und Respekt. Das heißt für mich, dass ich mindestens einen Tanz mit jeder Person tanze, die mir mit Respekt begegnet und mich auffordert. Zu diesem Respekt gehört es, gepflegt, freundlich und nicht komplett betrunken zu sein und mich nicht aus einem Gespräch herauszureißen. Gleichzeitig soll die sportliche Art des Tanzens, von der ich hier spreche, ohne sexuelle Intention angegangen werden. Zwar sind Gefühle, die aus der Sexualität entspringen, wesentlich an der Vollständigkeit eines Tanzes beteiligt, wie wir noch sehen werden. Dennoch sollen Tanzveranstaltungen grundsätzlich als übergriffsfreier Ort gesehen werden, an dem Nähe und Interaktion vom Einverständnis jeder Person abhängig ist.

Tänzer*innen, die die Tanzfläche für Missbrauch und Belästigung nutzen, die grapschen, tatschen und die Hüfte nicht vom Po unterscheiden wollen, stehen außerhalb jeder Diskussion, die ich hier führen möchte.

Einfache Verhaltensänderungen

Wir können im Tanz am einfachsten auf Details verzichten, die klar als sexistisch zu erkennen sind und den Tanz nicht weniger erfüllend machen, wenn sie fehlen. Dazu gehören anzügliche Gesten und Bezeichnungen bestimmter Figuren. Ich spreche hier zum Beispiel von Figuren der Salsa Rueda de Casino, die eindeutig Penetrationsphantasien oder Schläge auf den Hintern ausdrücken. Im hiesigen Kontext (beim sportlich gedeuteten Social-Dancing in Europa) kann ich dafür keine andere Interpretation als männliche Machtvorstellungen und Übergriffigkeit finden. Über die ursprüngliche Bedeutung der Bewegungen, die zum Teil aus dem kubanischen Guaguancó stammen, steht mir als weißer Deutscher kein Urteil zu. Ich, jedenfalls, möchte darauf verzichten, solche Elemente zu verwenden.

Eine zweite Verhaltensweise, die sich leicht als sexistisch identifizieren und abstellen lässt, ist die traditionelle Tanzaufforderung, bei der der Follower auf die Aufforderung des Leaders warten muss. Diese Gepflogenheit aus dem letzten Jahrtausend hat keinen Wert für das Tanzen, außer den Follower einmal mehr ohne Not als passiv zu stempeln. In meinem Bekanntenkreis ist die einseitige Tanzaufforderung bereits Geschichte. Dadurch fällt es leichter, sich gegenseitig als Subjekt zu begegnen. Als Subjekt, das sich selbstbestimmt und zeitlich begrenzt in eine bestimmte Rolle begibt und jederzeit wieder daraus aussteigen kann. Aufforderungen können auch jederzeit abgelehnt werden, wenn sich der*die Aufgeforderte gerade nicht in der Stimmung dazu befindet. Diese Ablehnungen muss der*die Auffordernde respektieren.

Rollenverständnis

Als schwieriger sehe ich eine Veränderung des Rollenverständnisses im Tanz an. Mit Rollenverständnis meine ich hier: Wer schlüpft in welche der oben beschriebenen Rollen und erfüllt bewusst oder unbewusst das ganze Paket an Erwartungen, die mit dieser Rolle verbunden sind? Vom Rollenverständnis und der konkreten Besetzung der Rollen mit Individuen werden die Kernkomponenten des Tanzes berührt. Ich habe diese Komponenten ganz oben so genannt: Spannung, Fluss, Rhythmus, Dynamik, Nähe, Harmonie, Kontakt und Ästhetik. Einige davon gruppieren sich um die Anziehungskraft zweier Menschen. Spannung bis Dynamik lassen sich ohne zwischenmenschliche Attraktivität denken. Das heißt für mich aus konkreter Erfahrung: Als heterosexueller cis Mann fällt es mir relativ leicht, diese Komponenten mit einem beliebigen anderen Menschen jeglicher Gender-Positionierung zu erleben. Also auch mit Personen, auf die ich nicht sexuell orientiert bin (zum Beispiel andere heterosexuelle cis Männer). Gender ist das mehrheitsgesellschaftlich wahrgenommene Geschlecht einer Person. cis bedeutet im Gegensatz zu trans, dass sich das eigene Geschlechtsempfinden mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht deckt.

Um jedoch die Komponenten Nähe, Harmonie, Kontakt und Ästhetik mit Leben zu füllen, braucht es für mich zwischenmenschliche Attraktivität. Oder zumindest darf die Abstoßung nicht zu stark sein. Wie Anziehung oder Abstoßung wirken, ist in jedem Menschen individuell angelegt und schließt unter anderem Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung mit ein. Jede*r kennt eine Vielzahl von Menschen, von denen sie*er sich nicht angezogen fühlt.

Moment! Warum schreibe ich hier von sexueller Anziehung, obwohl es in diesem Text doch eigentlich darum geht den Sexismus (ein Kulturphänomen) zu überwinden und nicht die Sexualität (etwas vermeintlich Natürliches). Ich meine zu erkennen, dass unsere Sexualität uns daran hindert, sexistisches Verhalten abzustellen.

Die sexuelle Anziehungskraft ist es, die es meiner Meinung nach ermöglicht, sich vollständig im Tanz fallen zu lassen. Ich glaube, jede*r Tänzer*in kennt die kurze Verliebtheit, die entsteht, wenn ein Tanz perfekt ist. Diese Verliebtheit, die die Tanzpartner*innen flüchtig zur Einheit verschmelzen lässt. Das gilt, obwohl ich weiter oben sexuelle Intentionen ausgeschlossen und den Tanz sportlich definiert habe. Das klingt paradox! Es passt aber dann zusammen, wenn wir anerkennen, dass es eine bewusste Entscheidung ist, sexuelle Intentionen auszuschließen. Eine gesellschaftliche Übereinkunft und ein Produkt kultureller Erziehung.

An diesem Punkt kommt es oft zur Irritation außenstehender Personen, die die tänzerischen Übereinkünfte nicht kennen. Menschen, die Bachata Sensual oder Kizomba das erste Mal sehen, sind oft überzeugt, es handele sich um eine Art obszönen Trockensexes. Es stimmt: Das Dargestellte besitzt sexuelle Ausdrucksformen. Zwischen den Tanzenden steht aber, soweit ich das beurteilen kann, im Regelfall kein greifbarer Gedanke an Sex. Die tänzerische Übereinkunft ermöglicht es uns, die sexuellen Ausdrucksformen mit vielen verschiedenen auch komplett fremden Personen zu reproduzieren. Am besten ist das Wirken der tänzerischen Übereinkunft in den Sekunden nach Ende des Liedes zu beobachten. Oft gibt es eine kurze Umarmung und dann gehen die Tanzenden schnell wieder auf gesellschaftlich übliche Distanz. Danach gehen beide ihres Weges. Dieses Phänomen zeigt sich auf Social-Tanzflächen und auch in Videos professioneller Tanzpaare.

Die Anziehungskraft ist für mich beim erfüllenden Tanz eine wichtige Komponente. Wenn ich nun von mir auf andere schließe, ist es also vermutlich für viele Tänzer*innen durchaus relevant, mit welchen konkreten Individuen die Rollen besetzt sind. Ebenso ist die Ästhetik, die das Tanzpaar sich selbst und der Außenwelt vermitteln möchte, bestimmt durch gesellschaftliche Prägung, die nicht einfach so über Bord geworfen werden kann. Diese Ästhetik haben wir wieder und wieder in Filmen, Youtube-Videos und der Werbung gesehen. Sonnenuntergang. Strand. Zärtlichkeit. Ein Mann, etwas größer als die Frau. Gesicht zu Gesicht. Wange an Wange. Das sind nur einige der gängigen Assoziationen zu Paartanz. So schön, so beschränkend.

Daraus entsteht dieses konkrete Problem: Um von vorn herein die Bestätigung von Rollenklischees zu erschweren, wäre es anstrebenswert, gender-unabhängig miteinander zu tanzen. So würden von allen Geschlechtern alle Rollen übernommen und keine Zuschreibung der Rollen zum einen oder anderen Geschlecht ermöglicht. Dabei wäre es aufgrund des ungewohnten Bildes leichter, mit den eingeübten ästhetischen Vorstellungen zu brechen. Es könnten neue Eindrücke entstehen, die nicht darauf angewiesen sind, das wahrgenommene Geschlecht mit zu bewerten: sportlich, verspielt, kreisend, linear, klar, kühl, taff, explosiv, energisch, weich oder fließend. Dieser gender-unabhängigen Performance steht jedoch meine Sexualität im Weg. Ich fühle mich, unabhängig davon wer Leader und Follower ist, am wohlsten beim Tanz mit einer Frau, die ich attraktiv (oder zumindest nicht abstoßend) finde. Und schon finde ich mich wieder in meiner Hollywood-Sunset-Komfort-Zone. Somit ist die grundlegendste Chance Klischees zu erschüttern vertan.

Bleibt für mich die Möglichkeit innerhalb dieses häufigen Mann/Frau-Tanzes mit den Klischees zu brechen. Gern übernehme ich als Mann beim Tanz mit der Frau die Follower-Rolle. Dann kann ich alle Komponenten des Tanzes ausfüllen… bis auf die typische Ästhetik. Ich möchte zum Beispiel gewisse Gesten die traditionell mit dem Tanz verbunden sind, wenn eine Frau die Follower-Rolle ausfüllt, selbst nicht ausführen (durchs Haar streichen, Po übertrieben bewegen, usw.). Und wenn ich das mache, dann ist es selbstironisch. Die Ästhetik unseres Tanzes mit vertauschten Rollen wird also eine andere, als die die klassischerweise angeboten wird und fühlt sich unvollständig an.

Warum möchte ich diese Gesten nicht ausführen? Weil ich mich schäme? Weil ich mich vor der Bewertung der Leute fürchte? Weil ich ein Problem damit habe, was diese Gesten ausdrücken? Weil ich Weiblichkeit tief im Unterbewusstsein mit Schwäche gleichsetze und selbst nicht schwach wirken möchte?

Warum finde ich es dann OK, wenn Frauen diese Gesten einsetzen? Bin ich weniger feministisch, als ich es gerne hätte? Verlange ich unbewusst von Frauen sich solcher Gesten zu bedienen und interpretiere einen Tanz mit vertauschter Rollenzuordnung deshalb von vorn herein als unvollständig?

Wahrscheinlich stimmt ein bisschen von allem! Auch ich trage noch Erwartungshaltungen in mir, von denen ich mich entwöhnen muss. Andererseits fehlt aber auch ein greifbares Angebot einer Tanzästhetik, die keine überkommenen Klischees (wie Schwäche und sexuelle Verfügbarkeit) transportiert, sich trotzdem schön und vollständig anfühlt und geschlechtsunabhängig verwendet werden kann.

Utopie

Die Entwicklung neuer Ästhetik jenseits eingeübter Zuschreibungen, könnte der erste Schritt sein, mit dem wir heute beginnen können. Ansatzpunkte könnten die Adjektive sein, die ich oben genannt habe (sportlich, verspielt, kreisend, linear, klar, kühl, taff, explosiv, energisch, weich, fließend). Denkbares Thema eines Workshops: Was können Tänzer*innen tun, um den Tanz „verspielt“ wirken zu lassen? Mögliches Thema einer Kursreihe: Wie erzeugen wir nach innen und außen ein Gefühl der „Explosivität? … Es warten Ausdrucksformen, die wir uns heute innerhalb der Salsa-, Bachata- oder Kizomba-Szene noch nicht vorstellen können. Das alles kann nur in einem langen Prozess ablaufen. Ein Prozess, dem Tänze ohnehin unterworfen sind, dessen Spin aber unter besonderer Sensibilität für Anti-Sexismus eventuell bewusst gelenkt werden kann.

Ziel soll es sein, den Tanz mit seinen schönen Aspekten abzukoppeln von Machtvorstellungen und veralteten Rollenbildern. Gleichzeitig soll es meiner Meinung nach aber nicht darum gehen, mit der Brechstange die Wichtigkeit von zwischenmenschlicher Anziehung zu verneinen. Das heißt, zum Beispiel nicht zu erwarten, dass ein*e progressive*r Tänzer*in mit jeder beliebigen Person tanzen sollte. Ausdruck ist immer etwas höchst subjektives, für das eines besonders wichtig ist: Jeder Mensch muss die Möglichkeit haben, bei sich selbst bleiben zu dürfen. Aus persönlichen Gesprächen weiß ich, dass viele auch durchaus feministisch eingestellte Frauen das Fallenlassen in die Follower-Rolle genießen. Wohlwissend, dass sie das in voller Absicht tun und jederzeit wieder aus dieser Rolle aussteigen können.

Beim Willen möglichst fortschrittlich zu sein, dürfen wir nicht den Fehler machen, Gegennormen zu erfinden. Feministisch zu handeln, bedeutet für mich ein Klima zu schaffen, in dem jeder Mensch bei sich bleiben darf, ohne abgewertet zu werden. Jede*r Tänzer*in das ausdrücken darf, wofür er*sie in dem Moment stehen will. Ohne ästhetische Vorgaben, ohne Limits. Für sich selbst.

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Philipp Eigner

Photographer, Engineer and writer born in the last days of GDR, now based in Bremen. Passionate Feminist and Dancer. Photography: https://philippeigner.com/