Picture of a dramtic sky clearing up after thunderstorm. Photo taken by Author.

Whataboutism überwinden

Philipp Eigner
5 min readMay 16, 2021

Ich arbeite für die deutsche Automobilindustrie. Die ist nicht erst seit Explosion des Marktes für SUVs ein schmutziger Rohstoffschlucker. Sie kann nicht ohne: Ein Konsumklima, das immer schnelleren Austausch der Fahrzeugflotte fördert. Seltene Erden für die integrierte Unterhaltungselektronik, abgebaut unter menschenunwürdigen Bedingungen in kolonisierten Ländern rund um den Globus. Aluminium, den gefeierten Leichtbauwerkstoff, erschmolzen unter absurdem Energieverbrauch. Ellenlange Transportketten, die reichlich Schweröl konsumieren. Ich muss zugeben: Ja, in dieser Industrie verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Ich bin Teil davon. Darf ich trotzdem das Ziel ewigen Wirtschaftswachstums kritisieren? Darf ich mich gegen ausbeuterische Wirtschaftsbeziehungen mit dem globalen Süden oder die klimaschädliche Existenz des Individualverkehrs an sich aussprechen?

Ich bin ein weißer Mann. Ich bin bereits ein Stück in sexismus- und rassismus-sensiblen Sprachgebrauch vorgedrungen. Sollte ich solange den Mund halten, bis ich auch den berechtigten Anliegen von Menschen mit Be_hinderung gerecht werden kann? Ich weiß, dass vieles, was ich sage, unwissentlich verletzend sein kann.

Das sind nur zwei Beispiele. Beide moralisch schwierig. Eines haben sie gemeinsam: So zu denken ist Whataboutism. Whataboutism lähmt. Es ist der kleine Teufel, der mir auf der Schulter sitzt und in mein Ohr flüstert: “Aha, du willst also XY besser machen? Aber was ist mit YZ? Hast du nicht bedacht, was? Vergiss das Thema, Fang am besten gar nicht erst an, Du kannst nur verlieren!”

Nicht nur ich selbst stehe mir im Weg, wenn ich mich immer wieder frage: “Aber, was ist mit …?”. Oft wird mit Whataboutism bewusst bezweckt, politische Gegner*innen auf Nebenschauplätze zu locken, um von eigener Verantwortung für Dinge die mensch ändern könnte abzulenken.

Manchmal aber ist Whataboutism nützlich. Manchmal zeigt er Dinge auf, die aufgrund der eigenen Perspektive im toten Winkel lagen. Wie lässt sich unterscheiden um welche Form von Whataboutism es sich handelt? Wie kann mensch damit umgehen?

1. Toxischer Whataboutism

Whataboutism kann ein rhetorischer Kniff sein, vom Thema abzulenken, indem Äpfel mit Birnen verglichen werden:

Wie du fliegst nicht mehr in den Urlaub? Dann darfst du aber auch kein Obst mehr essen, das mit Luftfracht zu uns kommt!

Whataboutism kann auch eine Geisteshaltung sein vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen und dadurch für das Hundertste keine Lösung zu finden:

Fleisch ess ich nicht mehr …Tierwohl, Klima. Fisch ess ich nicht mehr …Überfischung, Mikroplastik. Gemüse? No Way! Guck dir die Überdüngung unserer Äcker an, oder die Gewächshausburgen von Almería.

Und dann? Aufgeben! Am besten alles beim Alten lassen. Bringt eh nichts. Solche endlosen „Was ist mit?“-Ketten aufzureihen ist toxisch. Sie ersticken alles Handeln im Keim.

Daraus leite ich ab, wie ich damit umgehen will:

  1. Hinterfrage welchen Interessen diese “Aber, Was ist mit?”-Fragen dienen. Suchst du dir selbst eine Ausrede in deiner Komfortzone bleiben zu dürfen? Will jemand anderes dir die Verantwortung zuschieben, um nicht vor der eigenen Haustür fegen zu müssen?
  2. Bleib unnachgiebig. Kannst du bei dem Thema, um das es ursprünglich ging, einen Schritt in die richtige Richtung gehen? Du isst täglich Fleisch? Dann ist dieser Schritt nur noch jeden zweiten Tag Fleisch zu essen. Du verzichtest bereits auf Fleisch und hast dir solide Gewohnheiten angeeignet alternativ deinen Proteinbedarf zu decken? Dann ist dieser Schritt mehr auf die Herkunft jener Proteinquellen zu achten.
  3. Wende das 80/20 Prinzip an. Mit 20% deiner Gewohnheiten verursachst du 80% deines Impacts. Welche sind diese fetten Brocken, die du zuerst ändern möchtest?
  4. Entlarve Whataboutism, mache deinem Gegenüber klar, dass es jetzt erst einmal um DIESES Thema geht.
  5. Kurz gesagt: Setze Prioritäten und fange an.

Einzige Ausnahme: Es ist ein süffiger Rotwein im Spiel und der Ort des Gesprächs eine gemütliche WG-Küche. Dann ist auch gegen Philosophieren nichts einzuwenden und die Reise vom Hundertsten zum Tausendsten sicher eine Erfahrung wert.

2. Produktiver Whataboutism

Manche “Was ist mit?”-Frage verfolgt ein anderes, ein legitimes Ziel. Nämlich, mich darauf hinzuweisen, dass ich etwas übersehe. Übersehene Gruppen oder Gruppen mit übersehenen Anliegen haben nur eine einzige Möglichkeit die Bühne zu betreten. Mit Whataboutism. Schwarze Frauen mussten weiße Mittelschichtsfeministinnen daran erinnern, dass es nicht ausreicht für bessere Karrierechancen im eigenen Milieu zu kämpfen. Non-Binäre Menschen mussten darauf hinweisen, dass sie sich weder bei “Sehr geehrter Bürger” noch bei “Sehr geehrte Bürgerin “ angesprochen fühlen und alleine die Forderung sich in amtlichen Formularen in das eine oder andere einsortieren zu müssen ein Übergriff ist. Nur so sind die Themen auf der Tagesordnung gelandet und die Gesellschaft einen Schritt in eine inklusivere Richtung vorangekommen.

Auch hier habe ich mir einen Weg zurecht gelegt, mit den oft komplexen und widersprüchlichen Anliegen anderer Menschen umzugehen:

  1. Glaube nicht, dass es möglich ist zu handeln ohne irgendjemandem Unrecht zu tun. Auch mit Nicht-Handeln tust du Unrecht. Fehler werden unausweichlich passieren. Sei aber bereit dein Handeln zu hinterfragen.
  2. Stelle die Erfahrung anderer nicht infrage und erkenne sie als gegeben an.
  3. Frage dich, wie du betroffen bist, wenn die geäußerten Anliegen umgesetzt werden.
  4. Du profitierst ebenfalls? Super. Unterstützen!
  5. Für dich ändert sich gar nichts? Sei solidarisch. Das heißt, stehe in den Kreisen, in denen du dich bewegst, für die Idee ein. Überzeuge andere die Forderung mitzutragen.
  6. Auf ein paar Feldern verlierst du ein paar Vorteile, das gesellschaftliche Klima insgesamt verändert sich aber in Richtung zu mehr Menschenwürde? Du siehts, dass jemand behandelt wird, wie niemand behandelt werden sollte? Sei ebenfalls solidarisch.
  7. Die Auswirkungen auf dich sind gravierend? Dann steht es dir natürlich frei dich dagegen zu stellen. Widersprüche müssen von allen Seiten ausgehalten werden.

Wichtig ist mir, dass Solidarität nicht heißen muss, alles gut zu finden oder von allem zu profitieren, was andere Menschen fordern. Für eine stressfeste Zivilgesellschaft, die letztlich allen zugutekommt, lohnt es sich dennoch, Anliegen anderer in die eigene Filterblase zu tragen und dort zu vertreten. Ebenso glaube ich, dass die Gesellschaft als Ganzes vorankommt, wenn bewusste Abgrenzungen und Grabenkämpfe innerhalb von Gruppen, die für ähnliche Ziele kämpfen, aufgegeben werden. Beispiel dafür: Veganer, die anerkennen, dass Vegetarier in die gleiche Richtung rudern, können ihre Energie darauf verwenden, Menschen zu erreichen, die von beiden Konzepten bislang nichts gehört haben. Oder: Anstatt den Gewerkschaftsmann, der seine Rede mit “liebe Genossinnen und Genossen” beginnt, als ewig gestrig abzustempeln, gäbe es auch die Möglichkeit anzuerkennen, dass er mit derjenigen, die zum Beispiel ein Autor*innen-Netzwerk gründet, bereits mehr Sensibilität für geschlechtergerechte Sprache teilt als diejenigen, die gerne behaupten Frauen seien doch mitgemeint, wenn von Professoren und Chefärzten die Rede ist.

Whataboutism ist ein zweischneidiges Schwert und nicht immer schlecht. Einerseits schafft er Blockaden, andererseits ist er notwendiges Mittel, um die Gesellschaft anzutreiben. Es geht darum den toxischen vom produktiven Whataboutism zu unterscheiden, an der richtigen Stelle, lieber einmal zu viel als zu wenig, solidarisch zu sein und die weniger schlechte von zwei Möglichkeiten zu wählen.

***

Mehr Whataboutism gefällig: “Was ist mit meinen feministischen Überzeugungen, wenn ich Bachata tanze?”

--

--

Philipp Eigner

Photographer, Engineer and writer born in the last days of GDR, now based in Bremen. Passionate Feminist and Dancer. Photography: https://philippeigner.com/